Wirkungsgeschichte: Spurensuche über Raum und Zeit
Lassos lange Wirkungsgeschichte zeigt sich in der großen Zahl an Drucken und Handschriften mit seinen Werken bis ins späte 17. Jahrhundert hinein. Der letzte „zeitgenössische“ Lasso-Druck war eine Messe und erschien im Jahr 1687, also fast 100 Jahre nach seinem Tod im Jahr 1594. Er war der mit Abstand meistgedruckte Komponist seiner Zeit. Von Lassos rund 1360 Werken sind etwa 1200 in über 480 erhaltenen zeitgenössischen Drucken aus den Jahren 1555 bis 1687 überliefert. Die führenden Verlagshäuser in Deutschland, Frankreich, Italien und in den Niederlanden brachten seine Werke auf den Markt. Einige Kompositionen sind mehr als dreißig Mal im Druck erschienen, viele wenigstens zwanzig Mal. Auskunft über die Drucke gibt eine Bibliographie von Horst Leuchtmann und Bernhold Schmid: Orlando di Lasso. Seine Werke in zeitgenössischen Drucken 1555-1687, drei Bände, Kassel usw. 2001.
Hinzu kommt eine schier unüberschaubare Anzahl an Handschriften mit seiner Musik, die die Datenbank „Orlando di Lasso – Seine Werke in handschriftlicher Überlieferung“ auflistet. Autographes Notenmaterial ist nicht erhalten. Seine Handschrift kennen wir aus einer Anzahl von Briefen sowie aus Einträgen in Aufführungsmaterial.
Lassos Einfluss auf Lehrwerke
In Musiklehrbüchern zählt Lasso zu den meistgenannten Komponisten. So nennen Theoretiker wie Gallus Dressler, Seth Calvisius und Maternus Beringer ihn häufig und zitieren Passagen aus seinen Werken als Beispiele. Michael Praetorius preist Lassos Motetten in seinem Syntagma musicum aus dem Jahr 1619 als repräsentativ für die Gattung. Joachim Burmeister analysiert in seiner Musica poetica von 1606 Lassos Motette In me transierunt.
Auch Adam Gumpelzhaimers Compendium Musicae enthält zahlreiche Beispiele aus Werken Lassos. Vor allem dieses Lehrwerk dürfte wesentlich zur anhaltenden Bekanntheit seines Namens beigetragen haben, erschien es doch zwischen 1591 und 1681 in insgesamt 15 Auflagen; es kann damit als eine der einflussreichsten musikdidaktischen Schriften des 17. Jahrhunderts gelten. Und noch 1765 druckt Giuseppe Paolucci in seiner Arte Practica di Contrappunto dimostrata con Essempj einen zweistimmigen Satz Lassos als Beispiel ab.
Die „Wiederentdeckung“ von Lassos Musik
Ganz vergessen war Lasso also nie, von einer Wiederentdeckung im eigentlichen Sinn kann deshalb nicht gesprochen werden. Zudem begann sich die damals noch junge Musikwissenschaft schon vor Paolucci mit Lasso zu befassen. Aus der Mitte des 18. Jahrhunderts besitzen wir für das Studium angefertigte handschriftliche Partituren. Frühe Äußerungen über Lassos Musik verdanken wir dem Musikhistoriker, Komponisten und Organisten Charles Burney, der im 1789 erschienenen dritten Band seiner General History of Music allerdings ein eher negatives Urteil über ihn fällt. Ganz anders John Hawkins: In seiner General History of the Science and Practice of Music (London 1776) lobt er Lasso als „first great improver of figurate music“, als den ersten großen „Veredler“ der Figuralmusik.
Im frühen 19. Jahrhundert begann man, die geistliche Musik des 16. Jahrhunderts als die ideale Kirchenmusik anzusehen. Vor allem Giovanni Pierluigi da Palestrina galt als vorbildlich, sein Stil wurde deshalb von zahlreichen Komponisten nachgeahmt. Parallel zu Palestrina traten aber auch andere Komponisten des 16. Jahrhunderts ins Blickfeld; insbesondere Lasso wurde neben Palestrina hochgeschätzt. Carl Proske, eine für die Editionsgeschichte Lassos zentrale Figur, verglich Lasso mit Dante und Michelangelo, während er Palestrina an Raphaels Seite stellte.
Editionsgeschichte
Damit beginnt auch die moderne Editionsgeschichte Orlando di Lassos. Einer der ersten Drucke mit Lassos Musik erschien bei Schott in Mainz ohne Jahresangabe, ist aber in die Zeit um 1825 zu datieren. Die Motetten Agimus tibi gratias und Verbum caro panem verum sind dort jeweils zusätzlich zum lateinischen Text mit einer deutschen Nachdichtung unterlegt. Die erste wirklich bedeutende Edition ist dann Siegfried Wilhelm Dehns Ausgabe von Lassos Sieben Bußpsalmen (Berlin 1838).
Franz Commer widmete acht Bände seiner Reihe Musica Sacra der Musik Lassos, sie erschienen in Berlin in den Jahren 1860 bis 1867. Der schon genannte Carl Proske brachte in der Musica divina zwei Messen und 20 Motetten heraus (Regensburg 1853 und 1855).
Es ließen sich zahlreiche weitere frühe Publikationen nennen, doch zentral für das Edieren der Musik des Münchner Hofkapellmeisters wurde Carl Proskes handschriftliche Partitur der (nach traditioneller Zählung) 516 Motetten Lassos. Proske hat nahezu alle dieser in der Gesamtausgabe elf Bände umfassenden Stücke innerhalb des Jahres 1842 in Partitur gebracht (eine schier unvorstellbare Leistung), konnte jedoch nur eine Auswahl davon publizieren.
Eine kleine Auswahl von Lassos Werken (die Bicinien sowie verschiedene weltliche Sätze) wurde im Zug der Jugendbewegung im frühen 20. Jahrhundert für Laienmusiker ediert – oft mit ins Deutsche übersetzten Texten – und so einem breiteren musikinteressierten Publikum bekannt.
Manuskriptseiten von Orlando di Lassos Nuptias claras, in Partitur gebracht von Carl Proske (Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg, Pr-M Lasso V/43)
Literatur:
Bernhold Schmid, „[...] immer noch wenige Werke von Lassus.“ Zur Editionsgeschichte des Münchner Hofkapellmeisters. In: R. Emans / U. Krämer (Hrsg.), Musikeditionen im Wandel der Geschichte. Bausteine zur Geschichte der Edition 5, Berlin, Boston 2015, S.48-68.
Orlando di Lasso-Gesamtausgabe
Proskes Partituren wurden zu einer wichtigen Grundlage für die heute sogenannte Alte Gesamtausgabe. Pläne zu einer Ausgabe aller Werke Lassos hatte bereits Franz Xaver Witt im Jahr 1863 gefasst, der angefragte Verlag Breitkopf & Härtel sah jedoch keine Möglichkeit, das Projekt zu finanzieren. Die Ausgabe entstand erst ab 1894, als der Gründer der Kirchenmusikschule Regensburg Franz Xaver Haberl und der Münchner Bibliothekar und spätere Gründer des Lehrstuhls für Musikwissenschaft an der Universität München Adolf Sandberger begannen, Lassos Werke zu publizieren. Die Edition der Motetten innerhalb dieser Ausgabe basiert auf den von Carl Proske erstellten Partituren.
Diese jetzt doch von Breitkopf & Härtel publizierte Ausgabe wurde 1927 aus finanziellen Gründen abgebrochen und enthält in 21 Bänden etwa die Hälfte des Gesamtwerks. Ein Editionsplan in Band II zeigt, dass man sich über den Umfang des Werks noch nicht wirklich im Klaren war.
Mit der Neuen Reihe nahm sich die Bayerische Akademie der Wissenschaften der Lasso-Ausgabe an. In 26 Bänden, alle erschienen in den Jahren zwischen 1956 und 1995, enthält die von Bärenreiter verlegte Serie alles, was in der Alten Gesamtausgabe fehlt.
Parallel dazu erschien ebenfalls unter dem Dach der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von 1968 bis 2022 bei Breitkopf & Härtel eine Zweite, nach den Quellen revidierte Auflage der Alten Gesamtausgabe, die diese auf einen heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Stand bringt.
Im Jahr 2021 wurde die Orlando di Lasso-Gesamtausgabe abgeschlossen. Die etwa 1350 Werke des Münchner Hofkapellmeisters liegen in insgesamt 47 Bänden vor, zudem sind die gedruckten Quellen für Lassos Musik in drei umfangreichen Bänden ausführlich beschrieben, die Handschriften sind in einer Datenbank erschlossen. Würdiger Abschluss des Projekts war das Symposion Orlando di Lasso, der Münchner Hofkapellmeister und die Gesamtausgabe seiner Werke, zu dem der Forschungsstelle eng verbundene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Referentinnen und Referenten gewonnen werden konnten. (Die Publikation der Texte ist in Vorbereitung.) Dazu erklangen in einem Festkonzert des weltbekannten Münchner Vokalensembles Singphoniker ausgewählte Werke Lassos.
Orlando di Lasso im digitalen Zeitalter
Ein Teil der gedruckten und handschriftlichen Quellen für Lassos Musik (so die großen Bestände der Bayerischen Staatsbibliothek) sind mittlerweile digitalisiert und im Internet zugänglich, was die Editionsarbeit bedeutend erleichtert hat.
Im Rahmen des rapide zunehmenden Interesses an alter und immer älterer Musik in den vergangenen 50 Jahren nahmen sich der historischen Aufführungspraxis verpflichtete Vokalgruppen der Musik von Lasso an und legten eine Anzahl hervorragender Einspielungen auf CD vor, wobei die Lasso-Ausgabe mitunter beratend mitwirken konnte; davon legt nicht zuletzt eine Anzahl von CD-Beiheften Zeugnis ab.
Literatur zu Orlando di Lasso
In zahlreichen Arbeiten aus dem 17. und 18. Jahrhundert wird über Orlando di Lasso und seine Biographie berichtet. Viele Informationen gehen direkt oder indirekt auf Samuel Quicchelbergs Artikel in Heinrich Pantaleons Prosopographia heroum […] totius Germaniae (Basel 1566) zurück. Quicchelberg lebte am Münchner Hof und kannte Lasso persönlich, weswegen seine Angaben als zuverlässig gelten können. Im Lauf der Jahrhunderte schlichen sich verschiedentlich Irrtümer ein – so liest man beispielsweise immer wieder, Lasso sei 1520 geboren worden.
Die Forschung im eigentlichen Sinn beginnt im 19. Jahrhundert, die folgende Liste bringt eine kleine Auswahl an wichtiger Literatur:
- Ein frühes wichtiges Werk ist Henri-Florent Delmotte, Notice biographique sur Roland de Lattre, connu sous le nom d’Orland de Lassus (Valenciennes [1836]), das in deutscher Übersetzung und mit Anmerkungen von Siegfried Wilhelm Dehn erschien: Biographische Notiz über Roland de Lattre, bekannt unter dem Namen: Orland de Lassus (Berlin 1837).
- Eine Anzahl von Arbeiten legte Adolf Sandberger vor, der auch einen Teil der Alten Gesamtausgabe erstellt hat. Einen Meilenstein bedeuten seine Beiträge zur Geschichte der bayerischen Hofkapelle unter Orlando di Lasso. In drei Büchern. Erstes und Drittes Buch (München 1894 und 1895); ein Zweites Buch ist nicht erschienen.
- Zu nennen ist eine bedeutende französische Publikation: Charles van den Borren, Roland de Lassus (Brüssel 1943).
- Eine Standardmonographie des Typs ,Leben und Werk‘ ist Wolfgang Boettichers Orlando di Lasso und seine Zeit 1532 – 1594, Repertoireuntersuchungen zur Musik der Spätrenaissance (Kassel usw. 1958, 2. Auflage Wilhelmshaven 1999).
- Demselben Typus ist Annie Cœurdeveys Roland de Lassus (Paris 2003) zuzurechnen.
- Die nach wie vor maßgebliche Biographie schrieb Horst Leuchtmann, Orlando di Lasso: Sein Leben (Wiesbaden 1976).
- Und als Werkverzeichnis zu benutzen ist die Bibliographie von Horst Leuchtmann und Bernhold Schmid: Orlando di Lasso. Seine Werke in zeitgenössischen Drucken 1555–1687 (Kassel usw. 2001), wo auch die wenigen nur handschriftlich überlieferten Werke aufgelistet sind.
- Über die Handschriften gibt die inhaltlich von Tobias Apelt, Daniela von Aretin und Adelheid Schellmann erarbeitete Datenbank Orlando di Lasso – Seine Werke in handschriftlicher Überlieferung Auskunft.
Weitere Forschungsaktivitäten der Lasso-Ausgabe
Bei Kongressen zur Renaissancemusik wird Lasso häufig thematisiert, diverse Tagungen waren ausschließlich ihm gewidmet. Drei fanden in den Räumen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften statt: Im 400. Todesjahr 1994 veranstaltete die Lasso-Ausgabe einen Kongress im Rahmen eines großangelegten Festivals mit Musik Lassos und seiner Zeitgenossen. Der Kongressbericht Orlando di Lasso in der Musikgeschichte kann auf dem BAdW-Publikationsserver eingesehen werden. Und zusammen mit der Abteilung Kunstgeschichte der Universität Salzburg wurde ein Symposium zum Bußpsalmen-Codex Albrechts V. mit Lassos Musik organisiert, den der Maler und Illustrator Hans Mielich Seite für Seite mit Tausenden von Miniaturen ausstattete. (Vgl. den Bericht über die Tagung in Akademie aktuell 04-2017, S. 48-51.)
Die Ergebnisse der Tagung sind nachzulesen in folgendem Band: Andrea Gottdang und Bernhold Schmid (Hrsg.), Andacht – Repräsentation – Gelehrsamkeit. Der Bußpsalmencodex Albrechts V. (BSB München, Mus.ms. A). Bayerische Staatsbibliothek, Schriftenreihe Bd. 8, Wiesbaden 2020.